Im Herzen des Aargaus entstand aus Pioniergeist und Radsportleidenschaft das renommierte Eintages-Radrennen von Gippingen. Die Veranstaltung, geprägt von der Zusammenarbeit lokaler Legenden und der Unterstützung der Gemeinschaft, spiegelt den Aufschwung und die Werte einer ganzen Region wider.
Autor: Leo Erne. Eintritt ins OK 1967, bis 1981 Leiter Medien, 1982–1996 OK-Präsident, 1996 Ernennung zum OK-Ehrenpräsidenten, bis 2004 Fahrerverpflichter
Wie alles begann
Die Spurensuche führt ins Jahr 1963. In Gippingen wohnen 400 Leute (heute 1016). Nach dem Kraftwerkbau (1931– 1935) und den versunkenen Plänen für die Schifffahrt am Hochrhein mit möglicher Hafenanlage in Gippingen geht das Leben seinen gewohnten Gang. Das Dorf, politisch und kirchlich Leuggern zugeordnet, zeichnet sich als grösste Siedlung der Gemeinde seit jeher durch selbstbewussten Pioniergeist aus. In Ruhe vollzieht sich die «Zeugung» einer der heute bedeutendsten Sportveranstaltungen im Aargau mit dem international hoch eingestuften Eintages-Radrennen (Stufe 1.1).
Aktiv für den Schweizer Radsport
Robert Erne, Ehrenpräsident des Velo Clubs Gippingen (VCG), erinnert sich: «Am Abend der Schweizer Profi-Strassenmeisterschaft im Juni 1963 in Eschenbach (Sieger Attilio Moresi aus Lugano) treffe ich mich zufällig mit Sepp Voegeli auf dessen Heimfahrt. Wir suchen eine Idee für das 1964 anstehende Vereinsjubiläum «45 Jahre VCG». Sepp sagt mir, für den Profi Radsport müsse dringend etwas geschehen, international hätten die Schweizer keinen Stellenwert mehr. Wir Gippinger sollten mit dem guten Beispiel vorangehen.» Schon kurz danach, am 17. Juli 1963, versammelt sich der Verein im Restaurant Bahnhof in Felsenau und die 15 Anwesenden unterstützen einstimmig die Idee. Man müsse mit einer Belastung von 2000 bis 3000 Franken für den Verein rechnen.
Gleich den Spurt angezogen
Nur ein Jahr später, am Sonntag, 12. Juli 1964, stehen um neun Uhr 43 Radprofis auf der heutigen General-Guisan-Strasse am Start (2024: 140) «Internationales Strassenrennen für Berufsfahrer um den Grand Prix Martini und Rossi» lautet die Affiche. Das 20-seitige Programmheft kostet einen und der Renneintritt drei Franken. Die Rangliste, produziert auf einem Umdrucker mit «Schnapsmatrize», ist für 50 Rappen zu haben. Der «Siebendezi» Döttinger kommt auf 6.50 Franken zu stehen. In der Festwirtschaft arbeiten 15, bei der Streckensicherung 20 Personen. Der Parisienne-Lautsprecher tönt durchs Kirchspiel. Die Abrechnung weist einen Gesamtumsatz von 14600 Franken aus (Budget 2024: CHF 570 000). Das Rennen über 20 Strick-Runden löst Begeisterung aus.
Mit Euphorie weiter
Das jeweils am Samstagnachmittag tagende OK zieht positive Bilanz. Selbst einen kleinen Reingewinn warf die Premiere ab. Als «Grosser Preis des Kantons Aargau» geht es ein Jahr später am 27. Juni 1965 über 23 Runden. Die Präsenz des Radstars Jacques Anquetil beschert den «kleinen» Aargauern grosse Schlagzeilen. Das Ausbleiben des Stars lässt das OK auf Nägeln sitzen. Schliesslich nach Mitternacht kommt der Franzose in «Gippänschee» an, im Dörflein zwischen Basel und Zürich ohne Eintrag auf der Landkarte und ohne GPS. Die ländliche Idylle lebt über Jahre weiter. Im Festzelt wird Eintritt bezahlt. Auch der Tanzbändel hat seinen Preis. Die Tombola reizt die Spielfreudigen. Der VCG stellt seine eigene Festhütte. Das Sieger-Trio absolviert mit grossen Gladiolen-Sträussen die Ehrenrunde. Einige Profis und ihre Betreuer sitzen nach getaner Arbeit bei einem Bier im Zelt mit Fans zusammen. Die Auszahlung des Preisgeldes erfolgt auf der Bühne.
Das Gründer-Duo Sepp und Röbi
Von zwei Pionieren ist die Rede. Joseph «Sepp» Voegeli (1922–1992), Radsportlegende der Schweiz, unter anderem als erfolgreicher Direktor der Tour de Suisse (1967-1991), wächst in Gippingen auf. Der Verein mit seiner Organisationslust, bietet «Sepp» das ideale Umfeld. Der «Voegeli-Sepp» legt sich mit vollem Engagement ins Zeug. Seinem Netzwerk verdankt die Veranstaltung den rasanten und «sattelfesten» Aufstieg. Im ersten OK arbeiten 20 Personen mit (heute 40). Robert Erne fungiert in seiner Rolle als damaliger Vereinsvorsitzender als OK-Präsident. Sepp Voegeli tritt als «Sportlicher Leiter» in Szene. Diese anfängliche Rollenverteilung hat Symbolkraft. Die Veranstaltung steht auf einem doppelten Fundament, auf einem Zwei-Säulen-System: Einerseits Verein und Dorf mit ihrer Urkraft, verkörpert durch Robert Erne, und anderseits der gewiefte Drahtzieher und Ideenschöpfer Sepp Voegeli. Ab 1966 übernimmt er das OK-Präsidium als «Gippingen» in Person. nicht. Nachsatz: Robert Erne, Bescheidenheit in Person, legt auch beim 60. GP beim Aufbau Hand an!
Die Gesellschaft im Aufschwung
Zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich Europa erholt. Der Zeitgeist ist geprägt von Aufbruch und Entwicklung, von Mut und Zuversicht. Im Zurzibiet, im Aargau, ja in vielen Teilen der Schweiz lebt der Radsport mit unzähligen Veranstaltungen und vielen Aktiven. Das Klima für den Aufbau einer bedeutenden Prüfung ist günstig. Die noch nicht von elektronischen Medien und Events übersättigte Bevölkerung sucht nach hartem Tagwerk am Wochenende Abwechslung. In Gippingen füllen sich nicht allein der Zielbereich und die Steigungen am Rundkurs, sondern bis auch das Festzelt bis spät in die Nacht. Firmen, damals auch noch im Rauchwaren- und Alkoholbereich, suchen Plattformen. Das lokale Gewerbe und persönliche Mentoren leihen ihre Unterstützung. Anstösser, Landbesitzer, Gemeinde, Kanton, Polizei und Militär oder Sanität bringen grosses Verständnis auf.
«Weltklasse im Bauerndorf»
Die viel gesetzte Schlagzeile hat etwas an Glanz verloren. Es lassen sich zwar Spitzenteams verpflichten. Aber die Top-Athleten, die Schweizer leider inbegriffen, stecken in den Vorbereitungen für die Tour de France, trainieren etwa in den Pyrenäen und schicken zumeist die zweite Garde mit möglicherweisen späteren Spitzenfahrern. Schwelgen ist aber erlaubt: Anquetil, Stablinski, Saronni, Gimondi, Godefroot, Gebrüder de Vlaeminck, Basso, Thurau, Pollentrier, Moser, Chiapucci, Bugno oder Indurain waren vor Ort. Auch Armstrong und mehrmals Ulrich fanden den Weg ins Zurzibiet, und die Schweizer wie Richard, Salm, Freuler, Rominger, Cancellara oder Gisiger wurden von den Anhängerinnen und Anhängern gefeiert. Mit Stars aus dem nördlichen Nachbarland pilgern die Zuschauer in beeindruckender Menge über den Rhein. Beim 60. GP können die Fans erfreulicherweise den zwei einheimischen Talenten Fabio und Jan Christen Applaus spenden.
Gippingen hat in der Szene einen hohen Stellenwert, was ehemalige Athleten in ihrer heutigen Funktion etwa als sportliche Leiter oder Kommissäre belegen. Die Stichworte sind gleichlautend: tadellose Organisation, konstruktive Atmosphäre, Seriosität und Korrektheit beim Erfüllen von Verträgen und Verpflichtungen. Sportliche Leiter attestieren dem Rundkurs WM-Format.
Als Team «kampfstark»
Sepp Voegeli tritt 1981 zurück. Er wird unter Würdigung seiner Verdienste und der perfekten Hinterlassenschaft zum OK-Ehrenpräsidenten ernannt. Sein Rückzug zwingt zum Marschhalt bezüglich Organisationsform und Zuständigkeiten respektive Kompetenzen. Das Präsidium bleibt bei einer Person, aber eingebettet in ein Wir-Team mit Bereichsleitern mit thematisch definierten Ressorts. Zunehmend wirken sich die neuen Kommunikationsmittel auf die Zusammenarbeit aus. Eine Geschäftsstelle zieht die Fäden und sorgt für die Koordination. Die Helferschar umfasst rund 300 Personen aller Alters- und Geschlechtsklassen, zuzüglich Militär, Feuerwehr und Zivilschutz mit weiteren 150 Frauen und Männern.
Nie im tiefen Wellental
Viele gute Geister von den Eingesessenen bis zu den Neuzuzügern in Dorf und Gemeinde sowie treue Heimweh-Gippinger teils mit langer Anfahrt sind der Veranstaltung zugeneigt. Sie sind das Herz und die Lunge der Veranstaltung. Sorglos leben lässt sich nicht. Der Aufwand steigt und steigt, die Vorschriften der Verbände nehmen zu und die Sponsorenreaktionen waren auch schon besser. Die Veranstaltung kann allfällige Machenschaften im Spitzensport nicht ausweichen. Die Szene ist vollkommen professionalisiert. Die Grossen geben den Ton an und bringen die kleineren Veranstalter an Leistungsgrenzen. Aber nie durchläuft «Gippingen» eine Talsohle aufgrund von Skandalen oder quälender Misswirtschaft.
Die Zukunft ruft
Entscheidend bezüglich Zukunft sind Fragen wie Personalnachwuchs im OK und bei den Helfern, Sponsoren, Akzeptanz im Umfeld und Vorgaben seitens der Verbände. Die Veranstaltung leistet mustergültig Freiwilligenarbeit. Es sei mir an dieser Stelle gestattet, den Gippinger Radsporttagen eine glückliche Zukunft zu wünschen. Ich bewundere die aktuelle OK-Crew, welche grossmehrheitlich zur Geburtszeit des GP noch gar nicht auf der Welt war, für ihren Mut, für die grosse Arbeit und für die Bereitschaft, den traditionellen Geist mit Sinn für Seriosität, Volksnähe und Innovation nachhaltig zu pflegen.
Kaum ein Stein sei auf dem andern geblieben – so lautet die Einleitung. Eine höchst löbliche Ausnahme bildet der «Gippinger Geist», der sich auszeichnet durch Schaffenskraft, Verschworenheit, Stolz am Erreichten, Ideenreichtum sowie der heute noch hoch gehaltenen Ehrenamtlichkeit.
Sechs Jahrzehnte «Gippingen» – kaum ein Stein ist auf dem andern geblieben
Einige werden sich im Grab gedreht haben, aber seit 2016 befinden sich Start und Ziel ausgerechnet in Leuggern. In Gippingen wurde alles zu eng.
Die Strecke führt nicht mehr über den Strick. Das Rheintal ist entlastet und die Schleife über den Rotberg ist anspruchsvoller. Dieser Entscheid liegt im Interesse der Teamleiter und des internationalen Verbandes (UCI).
Der Eintritt ist frei; eine Gönner-Vereinigung steht freundlicherweise hinter dieser Massnahme.
Die Veranstaltung dauert fix drei Tage, der «Profi-GP» findet am Freitag vor der Tour de Suisse statt. Neu haben auch die Damen eine Startgelegenheit.
Man(n) trifft sich. Das Volksfest hat sich gelöst von Abenden im grossen Festzelt. Aber Unterhaltung ist geboten und ein Familientag wird vom Nachwuchs geschätzt.
Für TV live lassen sich Sponsoren finden – eine Forderung der UCI wird damit erfüllt.
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